„Comics sind nichts für mich! Damit komme ich nicht klar, die Themen interessieren mich nicht. Ich steh‘ nicht so auf lustige Bildchen. Ich lese nicht.“
Alles schon mal gehört? Oder selbst gesagt? Macht nichts, es gibt Abhilfe. Hoffnung, dass ihr oder euer Gegenüber doch noch den Weg zu Comics findet. Oder meinetwegen zu Graphic Novels. Gilt auch für Buchhändler:innen, die ein paar ausgewählte Stücke in ihr Sortiment aufnehmen möchten und nicht so genau wissen, welche interessant sein könnten und womit anfangen.
Für diesen Beitrag habe ich fünf Empfehlungen für Graphic Novels (ergo Comics) ausgewählt, die überzeugen können. Die ein Einstieg sein können in das umfangreiche Comic-Genre, das so viele Literatur-Genres umfasst. Viel Spaß beim Entdecken.
California Dreamin‘ – Pénélope Bagieu
Pénélope Bagieu (Hexen hexen, Unerschrocken) zeichnet ihre Comicbiografie über Cass Elliot komplett in schwarz-weiß und erzählt dabei aber trotzdem in buntem Flower-Power-Modus. Die im September 1941 geborene und spätere Sängerin der The Mammas & the Papas war exzentrisch, mit einer einnehmenden Stimme gesegnet und hatte als übergewichtige Tochter jüdischer Einwanderer etliche Stolpersteine in ihrem kurzen Leben zu überwinden. Sie verstarb im Juni 1974.
Bagieus expressiver Zeichenstil passt perfekt zum Leben und auch der Persönlichkeit der Künstlerin Elliot und eine im Anhang abgedruckte Playlist hilft bei der Gestaltung einer geeigneten Lese-Atmosphäre. Nicht nur für Fans der Sängerin, sondern für alle, die neugierig auf das Leben einer besonderen und unerschrockenen Frau sind.
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Der Liebhaber – Kan Takahama
Nach dem Roman von Marguerite Duras
Kan Takahama hat in dieser Graphic Novel den gleichnamigen Roman von Marguerite Dumas adaptiert und damit in einem Atemzug auch eine Comicbiografie der Autorin geschaffen. Takahamas Vorwort gibt einen wunderbaren Einblick in das Leben der Schriftstellerin Duras und eine tolle Einstimmung auf Takahamas Szenario.
Der Liebhaber ist überaus stimmungsvoll erzählt, zieht einen in die historischen Kulissen des kolonialen Indochinas. Eine interessante gegenseitige Abhängigkeit der Protagonisten, die aus so unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten stammen und jeweils für sich einen Nutzen aus der Beziehung ziehen ist nur ein Aspekt, der dieses Buch lesenwert macht. Dieser etwas aufmüpfige und so herrliche Gesichtsausdruck der weiblichen Hauptfigur (schaut euch nur das Cover an!) und die mit geisterhaftem Glühen geletterten Gedanken sind zwei weitere.
Senso – Alfred
Elena und Germano. Nach der Lektüre dieses Comics steht fest, dass dies ebenfalls ein treffender Titel für dieses Buch sein könnte. Alfreds Hauptfigur, der verloren und ein wenig auch aus der Zeit gefallen wirkende Germano trifft in einer schicksalhaften Nacht auf Elena, die auf eine andere Art auch als verloren gelten könnte. Beide sind an einem Ort, an dem sie eigentlich gar nicht sein wollen. Und flüchten sich in einer ungewohnten und spannenden Zweisamkeit in einen von verfallenen Kunstwerken geschmückten Park. Dass dieser zu einem Hotel gehört, in dem eine Hochzeitsfeier stattfindet, ist sehr schnell zweitrangig.
Alfred zaubert eine hörbare Stille mit seinen nacht-blau-schwarzen Tuschezeichnungen und berichtet so ganz nebenbei von der Verlorenheit seines Protagonisten, in dem er diese in die physische Ebene transportiert. Hier fehlt Germano ein Schuh, dort wurde seine Hotelzimmerbuchung storniert und da verfolgt ihn ein ominöses YouTube-Video. Senso ist bezaubernd in Gänze.
Der spazierende Mann – Jiro Taniguchi
Jiro Taniguchi war ein Meister. Seine ruhige Art in Bildern und wenig Text zu erzählen und die Natur einzubeziehen ist herausragend. Der spazierende Mann, der jetzt in einer erweiterten Ausgabe erhältlich ist, ist da nur ein Beispiel unter vielen. In einzelnen Geschichten, die miteinander verwoben sind, begleiten wir einen Mann, der gerne zu Fuß die Gegend erkundet. Er tut dies in Ruhe, mit Freude am Erlebten. Beobachtet Insekten, Gebäude, Menschen. Hat Freude am kindlichen Spiel und verweilt in Details. Und oft zusammen mit Flocke, seinem Hund.
Wenn heute von Achtsamkeit und dem Besinnen auf sich selbst gesprochen wird, kommen mir sofort Taniguchis Werke in den Sinn. Er hat dies öffentlich in seinen Manga schon lange praktiziert. Und damit auch einen Blick in sein Innerstes zugelassen (siehe auch sein unvollendetes Werk Der Jahrtausendwald). Taniguchi zu lesen, ist wie einen Mini-Zen-Garten zu gestalten. Und dabei den eigenen lauten Gedanken zuzuhören, dem frei schwebendem Geist zuzuschauen. Einzig die letzten drei Storys scheinen nicht zum Gesamten zu gehören und haben mich irritiert. Vielleicht muss ich es dafür noch einmal lesen.
Dieser Manga wird von hinten nach vorne gelesen, das ist aber aufgrund der klaren Struktur auch für Einsteigende gut machbar.
Tunnel – Rutu Modan
Als Kind half Nili ihrem Vater Broshi, der als bekannter Archäologe auf der Spur der sagenumwobenen Bundeslade war. Erkrankt an Dement, musste er seine Arbeit niederlegen, doch Nili, heute arbeitslos und ohne finanzielle Reserven, will die Grabungen wieder aufnehmen. Nur liegt der damalige Tunnel inzwischen unter der Mauer, die den israelischen Teil des Landes von dem der Palästinenser trennt – mitten in militärischem Sperrgebiet.
Nili ist entschlossen, organisiert einen Bagger, jugendliche Helfer und selbst ihr Bruder, der für den Rivalen seines Vaters arbeitet, unterstützt. Doch die Bundeslade ist nicht nur begehrt, sondern befindet sich auch auf arabischem Gebiet.
Modan spinnt ihre umfangreiche Story rund um die Legende der Bundeslade und verquickt sie mit aktuellen Bezügen zu Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Zionismus und Zwischenmenschlichem. Eine ganze Menge, was sie da unter einen Hut zu bringen hat und ihr dabei ausgesprochen gut gelingt. In bunten detailarmen Bildern bringt sie teils ungewohnten, oft skurrilen Humor unter. Spielt zeitgleich mit den bestehenden Vorurteilen der beteiligten Gruppen, lehrt uns nebenbei einiges über die Bedingungen am Rande des Westjordanlandes. Erfrischend, wie sie Araber und Israelis sich im Untergrund verbünden lässt und mit dem allgegenwärtigen (Aber-)glauben spielt. Modans Satire bleibt realistisch, gipfelt mit der schrägen Story in einem Durcheinander der Beziehungen und Komplikationen, bevor sie schließlich besänftigend endet.
2 Comments
Kathrin
19. Januar 2022 at 12:46„Wenn heute von Achtsamkeit und dem Besinnen auf sich selbst gesprochen wird, kommen mir sofort Taniguchis Werke in den Sinn. […] Taniguchi zu lesen, ist wie einen Mini-Zen-Garten zu gestalten.“
Ja, ja und ja! Genau so ist es immer wieder. Taniguchi ist pure Entschleunigung, Bewusstheit und Respekt gegenüber allem.
“ Der spazierende Mann“ habe aber bisher noch nicht gelesen. Das steht aber auf der Liste für dieses Jahr und jetzt bin ich neugierig auf die letzten Geschichten daraus und ob ich dir zustimmen werde. :)
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