GEHEIMNISVOLL
Zachary Ezra Rawlins entdeckt es zwischen all den unzähligen Büchern, die in der College-Bibliothek wohnen. Das Buch, das seine eigene Geschichte zu erzählen scheint. Welches davon erzählt, wie er als Kind die geheimnisvolle auf eine Hauswand gemalte Tür entdeckte. Eine Tür, die nirgendwo hinführen konnte. Zumindest, wenn man davon ausging, dass gemalte Türen sich nicht öffnen können. Wenn …
Entlang der Türränder sind präzise geometrische Muster eingeritzt – nein, aufgemalt -, die Tiefe vortäuschen, wo keine ist. In der Mitte, etwa dort, wo ein Guckloch sein könnte, und mit stilisierten Strichen, die zu der aufgemalten Schnitzerei passen, ist eine Biene. Unter der Biene ist ein Schlüssel, unter dem Schlüssel, ein Schwert.
SOG ERZEUGEND
Zachary verfällt dem Buch, er kann sich nicht losreißen. Vergisst darüber, dass er eigentlich an seiner Promotion arbeitet und macht sich auf den Weg. Auf eine Entdeckungsreise, die das seltsame Buch ihm geradezu aufdrängt. Aber es fühlt sich nicht schlecht an, im Gegenteil – das Buch und seine Geheimnisse erzeugen einen unfassbaren Sog, der Zachary mit sich zieht und ihn nicht mehr los lässt. Er MUSS ganz einfach mehr erfahren. Alles andere tritt in den Hintergrund. Zachary trudelt immer weiter hinab in seiner Suche. Ob am Grund auf ihn Das sternenlose Meer wartet?
Ist dies nicht sogar mein Buch?
Endlich sind die Jahre des Wartens vorbei, seit Erin Morgenstern mit ihrem Debüt Der Nachtzirkus (auch bei mir) eingeschlagen ist mit ihrer tief poetischen und zugleich phantastisch dunkelschillernden Geschichte. Dementsprechend hoch waren die Erwartungen in ihren neuen Roman. Bereits nach wenigen Absätzen, eigentlich schon nach den ersten Sätzen, wusste ich, dass dies DAS Buch war, auf das ich gewartet hatte. Wenn Bücher mich auf eine bestimmte emotionale Weise berühren, weiß ich, dass sie für mich „richtig“ sind. Das sternenlose Meer ist solch ein Roman. Ein Roman über Bücher, über Geschichten, über das Erzählen und über das Wirken dieser Dinge in uns Lesenden. Es ist ein Buch für uns alle, voller Wunder.
Ein Protokoll der Gefühle
Dies wird keine Rezension im eigentlichen Sinne, vielmehr möchte ich euch teilhaben lassen, welche Wirkung Morgensterns Text auf mich hatte. Subjektiv und sehr persönlich.
Nach jedem der kurzen Kapitel, die über eine längere Strecke abwechselnd von Zachary erzählen und Abschnitte aus dem von Zachary gefundenen Buch abdrucken, musste ich tief durchatmen, mich sammeln und neu ordnen. Die ersten vier Seiten haben mich bereits derart in Sprache und Inhalt mitgenommen, dass ich ein klitzekleines bisschen Angst hatte, auf was ich mich da eingelassen hatte. Aber wie Zachary, fühlte ich einen immensen Sog weiterzulesen. Erin Morgenstern hat Worte, Sätze und den Kapitelaufbau komponiert, als hätte sie es auf meinen Geist zugeschnitten, meine innere Stimme „kopiert“. Ich verlangsamte mein Lesen immer weiter, um bloß alles bis auf das Essentielle Eingedampfte in den Texten in mich aufzunehmen. Der Text floss wie dicker gelber Honig und hielt mich fest in seiner zuckrigen und leicht bitteren Klebrigkeit. Was für ein überwältigendes Gefühl. Gab es hier schon eine Parallele zu der Biene auf der Tür?
PAPIER, SELBST MIT FADEN in Stoff oder Leder gebunden, ist empfindlich. Die meisten Geschichten im Hafen am Sternenlosen Meer wurden auf Papier festgehalten. In Büchern oder auf Schriftrollen, oder man faltete sie zu Papiervögeln und hängte sie an die Decke.
Einige Geschichten sind noch empfindlicher: Auf jede in Stein geritzte Erzählung kommen etliche, die auf Herbstblättern stehen oder in Spinnweben eingewoben sind.
Als Lesende fühlte ich mich wie eine Beobachterin, die einen Peilsender an Zachary angebracht hatte und dessen Signal folgte. Unermüdlich und immer vorsichtig Abstand haltend, dass er mich ja nicht bemerkte. Gleichzeitig verspürte ich den starken Drang, den Text laut zu lesen, die zauberhaften Kompositionen auszusprechen. Den perfekten Rhythmus der Worte zu hören, der sich anfühlte, wie ein Song, bei dem man plötzlich mitsingen und sich im Takt der Musik bewegen muss. Immer wieder blätterte ich zurück, hatte den Eindruck, das Buch spricht die Sprache meiner Gedanken, steht gar in telepathischer Kommunikation mit mir. Was für ein Erlebnis.
Ein wenig ließ diese Faszination nach, als es auf das Ende des Romans zuging. Der Abschluss war dann nicht wie erwartet. Hinterließ Gedanken über die Absicht der Autorin, die ich hier nicht ohne zu viel zu verraten festhalten kann.
Wer das Geheimnis des sternenlosen Meers lüften möchte, ist aufgerufen, sich selbst auf die Reise zu machen. Nach den ersten paar Sätzen solltet ihr merken, ob dieser Weg zu euch passt. Zu mir passte er in jeder seiner Nuancen.
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6 Comments
Tina
13. Mai 2021 at 19:32Liebe Sandra,
wunderbare Worte zum Buch. Es steht auf der Wunschliste, aber aber ich muss erst meine Schmach gut machen und den Nachtzirkus lesen. Liegt auf dem SUB, noch, leider.
Du machst mir die Autorin auf jeden Fall sehr schmackhaft gerade. :-)
Liebe Grüße
Tina
booknapping
14. Mai 2021 at 10:39Hi Tina
Danke dir und ich freue mich auf deine Eindrücke zum Nachtzirkus :-)
Liebe Grüße
Sandra
Stopfi
2. Mai 2021 at 17:32Dieses Buch steht noch auf meiner Wunschliste, aber ich hoffe doch sehr, dass es irgendwann bei mir einzieht und es mich dann begeistern kann ❤︎ Den Nachtzirkus mochte ich damals wahnsinnig gerne :)
Danke für den schönen Beitrag!
Liebe Grüße,
Emily
booknapping
4. Mai 2021 at 14:07Hi Emily,
wenn du den Nachtzirkus mochtest, stehen die Chancen richtig gut, dass du auch das Meer genießen kannst :-)
Viel Spaß beim Abtauchen!
Liebe Grüße
Sandra
Buchperlenblog
27. April 2021 at 08:54Liebe Sandra!
Was für ein schöner, persönlicher Beitrag, der zeigt, wie sehr du dieses Buc in dein Herz geschlossen hast! Ich finde es wirklich grandios, wie sehr dich die Sprache offensichtlich mitgenommen hat und wie viel Gefühl sie für dich transportieren konnte!
Ich weiß allerdings nicht, ob das wirklich was für mich wäre. Ich liebe gutgeschriebene Bücher, aber wenn etwas so überbordend ist, wie ich hier den Eindruck bekomme, dann bin ich meistens eher etwas … genervt. Ich sollte allerdings auf jeden Fall beim nächsten Buchhandlungsbesuch einmal reinblättern, um das genauer für mich festzustellen. Danke dir für diesen schönen Ausflug!
Alles Liebe!
Gabriela
booknapping
28. April 2021 at 09:03Liebe Gabriela,
ich freue mich riesig über deine Begeisterung :-D Ich hatte meine Eindrücke direkt beim Lesen notiert und war jetzt – Monate später – sehr froh, sie zu haben. Die Leseprobe beim Verlag reicht schon, denke ich, um einen Eindruck von der Wirkung des Textes zu bekommen. Vielleicht funktioniert, vielleicht auch nicht – ein Versuch lohnt sich aber :-)
Ganz liebe Grüße
Sandra
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