Lest ihr Science Fiction? Falls ja, dann kennt ihr vermutlich die gängigen Klischees, wenn übers Genre gesprochen wird. SF wäre immer technisch (ich weiß nie, was das eigentlich bedeuten soll), würde immer im Weltall spielen oder es käme immer mindestens ein Alien vor. Falls ihr bisher keine oder wenig Science Fiction lest, liegt es vielleicht an einer der genannten Annahmen?
In diesem Beitrag stelle ich daher fünf Science Fiction-Storys vor und widerlege je Buch ein bestehendes Vorurteil. Als zusätzliche Herausforderung, handelt es sich bei allen fünf Titeln um Comics (Graphic Novels). Weitere gute Beispiele übrigens zum Thema Comics sind nichts für mich! 5 Empfehlungen, die überzeugen.
Und nur, damit ich nicht missverstanden werde: Ich mag Raumschiffe, Weltall und Aliens in der SF-Literatur :-)
In Ruinen begleiten wir den Psychiater Samuel, der mittels einer Apparatur in den Kopf von Komapatient*innen reisen kann. Mit dieser Methode kann er Menschen aus diesem sprachlosen Zustand zurückholen. Engagiert von einer wohlhabenen Familie, soll er sich in das Hirn von Rose versetzen lassen, deren Geist sich seit Jahren in sein Innerstes zurückgezogen hat. Die Rückhol-Expeditionen unternimmt Samuel ausschließlich alleine, zu gefährlich geht es in den Köpfen der komatösen Menschen zu. Jedoch besteht Roses Schwester Anha darauf, ihn zu begleiten und da er sie partout nicht abschütteln kann, lässt er sich drauf ein.
Ruinen ist viel brutaler als ich erwartet habe. Das Cover hat mich zunächst auf eine ruhige und friedvolle Geschichte eingestimmt, doch sobald die Hirn-Touristen in Rose angekommen sind, ist die ruhige Atmosphäre gestört. Zwar sorgen Perrodeaus geometrische Zeichnungen für eine gewisse Ordnung und Stille, aber in der virtuellen Welt von Roses Unterbewusstsein ist jede Menge los.
Begeistert hat mich, wie auch schon in Dämmerung, der geniale Art-Style des Autors, der mit minimalistischem Strich fliegende Transportmittel, Städte, Waffen und auch Natur erschafft. Da bewegt sich ein Bügel auf einem halbierten Zylinder und schon rauscht ein fliegendes Schiff durch die Wolken. Großartig und ich kann mich nicht dran satt sehen.
Am Ende ist Ruinen mit Ausnahme des unverwechselbaren Zeichenstils nicht mit Dämmerung zu vergleichen, aber eine lohnenswerte Lesereise, die auch viel über die Gefühlswelt der Personen verrät, die auf die Rückkehr einer Patientin warten.
Vorurteil widerlegt, es kam kein Weltall vor :-)
Die schwimmende Stadt Celestia wurde vor über tausend Jahren erbaut und hat vielen Menschen nach der großen Invasion eine neue Heimat geboten. Auch Dora und Pierrot hat es dorthin verschlagen, jedoch möchten sie mehr wissen. Gibt es weitere Menschen, dort draußen, hinter dem Meer? Womöglich weitere telepathisch Begabte, so wie sie?
In Celestia greift Manuele Fior die Handlung aus seinem Comic Die Übertragung wieder auf, begibt sich allerdings hier weiter in die Zukunft. Ich habe den Vorläufer erst nach Celestia gelesen und kann sagen, dass die Lektüre nicht für das Verständnis des Buches erforderlich ist. Jedoch habe ich grundsätzlich ein Problem mit dem Verstehen der Story. Fiors Kunst scheint sich vor mir zu verschließen, denn die Story ist zwar interessant, wundervoll gezeichnet und koloriert, aber ich verstehe einfach nicht, warum sie erzählt wird.
Ich frage mich, ob der Künstler womöglich in einer so fortschrittlichen Weise seine Storys erdenkt, dass ich sie mit meinem Jetzt-Geist einfach nicht erfassen kann.
Gibt es das Untergenre humanistisch-futuristische Science Fiction? Falls nicht, für Celestia gehört es erfunden.
Vorurteil widerlegt, Celestia ist nicht technik-orientiert :-)
Mechanica Caelestium ist ein Highlight für mich! Merwan macht hier so Vieles richtig, dass es mir vor Freude fast die Tränen in die Augen getrieben hat. Und dabei geht es hier um einen sportlichen Wettstreit – eigentlich nicht gerade mein Lieblingsthema.
In einer post-apokalyptischen Welt wehrt sich die kleine Ansiedlung Pan gegen die Übermacht der Stadt Fortuna. Aufgrund fehlender Waffenstärke hätte sie null Chance, jedoch bleibt die Möglichkeit der Mechanica Caelestium. So stellen die Dorfbewohnenden ihre Mannschaft auf …
Merwans Comic kommt ganz ohne Klischees von Post-Apokalypsen aus. Es gibt keine Missbrauchsszenen, keine männlich-zentrierten Gewaltfantasien und seine weiblichen Figuren müssen nicht posieren. Dieser Comic ist haptisch und optisch schon ein Brecher, mit dem Leinenrücken, dem mattierten Cover und den organischen Wasserfarben. Trotz jeder Menge Action, wirkt alles irgendwie friedvoll. Asto ist eine fantastische Protagonistin mit ihren roten Gummistiefeln und ihrem Freund Wallis, der davon träumt ein Fisch zu sein. Alle bewegen sich mit Leichtigkeit durch die von Zerstörung geprägte Welt und welch schönes Gefühl, in einem Buch (auch) weibliche Anatomie realistisch dargestellt zu sehen.
Großartig erzählter mitreißender Freiheitskampf – Empfehlung!
Vorurteil widerlegt, Mechanica Caelestium ist absolut nicht nur für Männer – aber auch :-)
Einzig Sapiens und Hybride sind nach einem Kollaps der Natur noch am Leben. Die Menschen leben in Stapelstädten, die aus Containern, Maschinenresten, Waggons und anderen stabilen Materialen erbaut sind, dabei aber zugleich sehr fragil im zusammenbastelten Chaos wirken.
Die kleine Ali sucht mitten in Andreas Kieners gelb-pinker Welt nach ihrer verschwundenen Mutter. Stets an ihrer Seite ist ein riesiger Plüschbär, ein sogenannter Shiemen. Einen solchen Androiden können sich nur Reiche leisten – Alis Mutter muss also eine höhere Position inne gehabt haben -, was wiederum Begehrlichkeiten bei Fremden weckt, denen die beiden auf ihrer Reise begegnen.
Unvermögen ist anrührend und beschäftigt sich auf ungewöhnliche und zumindest für mich neue Art mit dem Thema Künstliche Intelligenz. Auch wenn KIs momentan häufig in der Literatur vorkommen, setzt Andreas Kiener hier zwar auf einer gängigen Prämisse auf, setzt sie aber sehr individuell um. Mir war Unvermögen etwas zu kurz, ich hätte gerne mehr von der Welt und den Bewohner*innen erfahren. Gut gefällt mir, dass der Künstler werksübergreifend an einer Vorliebe zu Zitronengelb zu erkennen ist (siehe auch meine Rezension zu Odysseus).
Vorurteil widerlegt, Unvermögen ist das Gegenteil von herzlos :-)
Little Bird kämpft in einer dystopischen Welt um die Freiheit gegen ein mächtiges amerikanisches Reich. Mutanten haben es geschafft, sich zu vermehren und das Finden der eigenen Identität fällt der auf sich alleingestellten Kämpferin sichtlich schwer.
Little Bird ist nichts für Menschen, die kein Blut sehen mögen. Denn es geht brutal und drastisch zu auf den überformatigen Hochglanz-Seiten. Die Gewalt in diesem Comic geschieht jedoch nicht grundlos oder effektheischerisch.
Im Szenario fühlte ich mich an Jodorowskys anspruchsvolle Welten erinnert und das Artwork ist eher typisch franko-belgisch als amerikanisch. Insgesamt sehr ungewöhnlich und für mich in der Gesamtheit besonders! Auf den letzten Seiten finden sich noch einige unkolorierte Zeichnungen in einer Galerie, die in mir ein Wow-Gefühl ausgelöst haben. Dass die Story fortgeführt werden soll, hat mich übrigens überrascht, aber ich freue mich drauf!
Vorurteil widerlegt, keine Aliens in Little Bird :-)
6 Comments
Miss Booleana
7. Mai 2022 at 14:37Wow, coole Idee :D Hast du in ähnlicher Art auch noch andere Genre-Vorurteile auseinander genommen!? Finde ich sehr lohnenswert.
Inhaltlich klingen die alle klasse! Das Artwork ist bei keinem von denen so wirklich meins, was mich ein wenig zögern lässt. Das ist halt immer die schwierige Doppelleistung von Comics, die viele Leser:innen nicht visueller Storys vergessen … mal schauen bei welchem ich dann trotzdem zugreife ich mich eines besseren belehren lasse.
booknapping
17. Mai 2022 at 14:55Bitte entschuldige die späte Antwort. Ganz großes Danke (!) für dein Feedback. Andere Genre-Vorurteile habe ich noch nicht zerpflückt, wäre aber einen Gedanken wert :-) Super Inspiration, danke!
So wie ich deinen Lesegeschmack kenne, könnte (mein Highlight) Mechanica Caelestium etwas für dich sein. Und Sport interessiert dich auch, oder?
Liebe Grüße
Sandra
Lisa
24. April 2022 at 15:56Ruinen hat mir auch sehr gut gefallen! :)
Danke für die Tipps für die anderen Comics! Da kommen einige davon auf jeden Fall auf meine Liste :)
Liebe Grüße
Lisa
booknapping
26. April 2022 at 15:43Hi Lisa
Ja, Ruinen ist gut, Dämmerung ist noch besser ;-)
Schön, dass du was für dich gefunden hast.
Liebe Grüße
Sandra
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