Die nahe Zukunft Ende des 21. Jahrhunderts. Die 70 Jahre vorausliegende Zukunft. Ein Game. Ein Mord im Game. Das Game ist kein Game. Der Jackpot. London. Hefty Mart als Monopolist aller Einzelhändler. 3D-Kopiershops. Cosplay-Zonen. Mentale Reisen zwischen den verschiedenen Zeitpunkten. Übertragung des Geistes in Peripherals. Egal in welcher Zeit. Politik. Kollaps. Das Ende. Der Anfang. Gibson.
Stichpunkte, die immer wieder Neues ergeben
Dies sind nur Stichpunkte. Wie ein Aufflackern der Handlung beschreiben sie für mich Momente dieses aktuellen Romans von William Gibson. Momente, die ich beim Lesen dieses außerordentlichen Buchs mitnahm. Im Rückblick kann ich „Peripherie“ am besten mit solchen Stichworten beschreiben. Diese abgehackt wirkende Art spiegelt die Handlung so wieder, wie ich sie empfunden habe und wie sie in meiner Erinnerung besteht. „Peripherie“ hat all diese Elemente in mir hinterlassen. Sie schwirren ziemlich wirr in meinem Gedächtnis und verbinden sich zum Teil noch nach Abschluss der Lektüre vor etwa einer Woche zu Neuem. Und das wird nicht so schnell abreißen. Wenn eine Erzählung eine solche Wirkung auf mich hat, weiß ich, dass es etwas Besonderes ist. Etwas Bleibendes.
Knappe sechs Monate
Im September 2016 erschien die deutsche Ausgabe von „Peripherie“ beim Tropen Verlag. Etwa zu dem Zeitpunkt begann ich auch mit der Lektüre. Beendet habe ich den gut 600 Seiten langen Roman erst Anfang März 2017. Das sind knappe sechs Monate Lesezeit. Zwar bin ich keine schnelle Leserin und lese meist auch parallel in mehreren Büchern (und Comics), aber sechs Monate sind selbst für mich eine sehr lange Zeit.
Begonnen hat es mit dem Lesen eigentlich zunächst sehr gut und zügig. Ich hatte mich schnell auf Gibsons eigenes Vokabular eingelassen. Mir keine allzu großen Gedanken gemacht, wenn ich das ein oder andere Wort nicht zuordnen konnte. Habe mich einfach drauf eingelassen, so wie wenn man ein Buch in einer fremden Sprache liest. Auch da soll es ja besser sein, bei unbekannten Wörtern einfach weiterzulesen. Mit der Zeit wächst so das Verständnis der Sprache aufgrund der Kontextbezüge, die wiederum ein „Verstehen“ erlauben. Außerdem lese ich ja nicht seit gestern phantastische Texte und bin deshalb ein anfängliches „Fremdeln“ mit Wörtern und Sprache gewöhnt.
„Sie glaubten, dass Flynnes Bruder keine posttraumatische Störung hatte, sondern dass ihn die Haptics manchmal glitchten. So was wie Phantomschmerzen, sagten sie, die von den Tattoos kamen, die er im Krieg hatte und die ihm sagten, wann er den Angriff beginnen sollte und wann stillhalten.“
Aber schon nach nur knapp 50 Seiten wurde es schwieriger dran zu bleiben. Die kurzen, meist nur zwei bis vier Seiten langen Kapitel sprangen zwischen Handlungsorten und -zeiten hin und her. Insgesamt war für mich nicht nachvollziehbar, wo der Autor mit seiner Story hin wollte. Eine Identifikation mit irgendeiner der handelnden Personen war unmöglich. Punktum. Ich lag das Buch erst einmal zur Seite. Pausierte bis Ende des Jahres.
Im Flow. Logged in.
Anfang 2017 las ich das faszinierende Interview der Zeit mit William Gibson (hier geht es zum Interview) und nahm die Lektüre wieder auf. Nach nur wenigen Seiten war er dann da. Der Flow. Ich war eingelogt. Endlich. Und es war ein tolles Leseerlebnis.
Gibsons Dystopie ist so nah an der Wirklichkeit, dass es Momente beim Lesen gibt, die einen erschreckt die Augen aufreißen lassen. Es scheint visionär, wie der Autor diese Situationen schon vor 2014, als das Buch im Original erschien, niederschrieb, sodass sie sich heute – Anfang 2017 – wie die aktuelle und auch durchaus erschreckende Realität widerspiegeln. Bezüge zur Weltpolitik und der Macht der Medien finden sich vielerorts und wurden von Gibson in seiner eigenen Geschichte versponnen. Obwohl beispielsweise im Weißen Haus noch eine ganz andere Familie wohnte als heute.
„Und Wilf Netherton erzählte ihr vom Ende der Welt oder jedenfalls dem Ende dieser ihrer Welt, das der Beginn seiner Welt gewesen zu sein scheint.“
Letztendlich lief alles aus dem Ruder und endete im sogenannten Jackpot. So erzählt es uns „Peripherie“. Und ist Gibson damit so weit weg von unserer heutigen Situation? Vermutlich liest sich dieser Roman abhängig vom Zeitpunkt der Lektüre jedes Mal anders. Wie mag es sein, wenn das Buch in 70, 20, 10, 5 oder sogar nur in einem Jahr gelesen wird? Ich vermute, die Wirkung wird dann eine andere sein. Bleibt zu hoffen, dass wir dann nicht dem Jackpot näher gekommen oder sogar schon mittendrin sind.
„Wer hat denn das Sagen?“
„Oligarchen, Konzerne, Neomonarchisten, da die Erbmonarchie ein praktisches, vertrautes Rahmenwerk abgibt.“
Erschreckende Wahrheit?
Bücher können – ich sage mal – flauschig sein. Flauschig einfach, flauschig schön, angenehm und wohltuend. „Peripherie“ ist kein Horror-Roman, nicht blutrünstig oder gewalttätig. Aber er ist aufrüttelnd, kann erschreckend sein, in den „Wahrheiten“, die er ausspricht. Der Text ist ungewöhnlich (nicht unbedingt für Gibson, aber im allgemeinen Vergleich), er ist schräg, hat seine eigene Sprache. Er stellt sich quer, scheint stellenweise gar nicht dazu gedacht zu sein, gelesen zu werden, sondern nur zu existieren, weil der Autor ihn schreiben wollte. Bis zur letzten Seite hatte ich Probleme zwei der Nebencharaktere auseinander zu halten. Auch habe ich auf keiner der Seiten einen einzigen Charakter gefunden, mit dem ich mich als Leser identifizieren hätte können.
Trotzdem. „Peripherie“ hat erfreulicherweise bleibende Kerben in meinem (Lese-)Gedächtnis hinterlassen. Und jetzt … vertrage ich auch mal wieder etwas mit mehr Flauschigkeit :-)
Peripherie – William Gibson, erschienen 2016 bei Tropen (Imprint vom Klett-Cotta Verlag), ISBN 978-3-608-50124-7, 616 Seiten, gebunden, Eur 24,95
Eine Leseprobe findet sich auf der Verlagswebseite: hier lang zur Leseprobe bei Tropen.
3 Comments
Dagmar
16. Mai 2019 at 18:00So, nun habe auch nicht nur ausgelesen, sondern auch meine Gedanken sortiert:
https://blog.geschichtenagentin.de/william-gibson-peripherie-science-fiction-rezension/
booknapping
20. Mai 2019 at 20:45Vielen Dank, dass du den Link gleich da gelassen hast! Ich war gerade schon bei dir :-)
Liebe Grüße
Sandra
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