Alan Garner ist mir zuletzt vor vielen Jahrzehnten unter die lesenden Augen gekommen. Ich weiß gar nicht mehr, welche seiner Romane ich gelesen habe, aber es waren ganz sicher Bücher aus der Bibliothek. Und sie waren im Kinder-/Jugendbereich der Bib zu finden. Auf den ersten Blick hat dieser neue Kurzroman des Autors mit den Texten, die ich in Erinnerung habe, keinerlei Ähnlichkeit. Aber vielleicht auf den zweiten?
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Titel: TREACLE WALKER. Der Wanderheiler
Autor: Alan Garner
Übersetzung: Bernhard Robben
Erschienen: 15. Juli 2023 (englisches Original 2021)
Verlag: Hobbit Presse / Klett-Cotta Verlag
Ausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag, 160 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-608-98732-4
Link zum Buch und zur Leseprobe beim Verlag
Treacle Walker war auf der Longlist des Booker Prize 2022
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Lumpensammler …
Joe kann auf einem seiner Augen nicht gut sehen, zieht sich am liebsten mit seinen Comics zurück und ist ganz ohne Freunde in dem alten Haus im nordwestlichen England. An diesem Häuschen führt eine Eisenbahnstrecke entlang – der darauf hinratternde „High Noony“ ist eins der Highlights in Joes wenig abwechslungsreichem Alltag.
Als er eines Tages einen Mann „Knochen, Lumpen und Papier! Reibstein und Geschirr, das gibt der Lumpensammler dafür!“ rufen hört, ist er außer sich, zieht die Augenklappe vom schwachen Auge und stürzt ans Fenster. Nicht viel später hält Joe ein kleines unscheinbares Töpfchen und einen Stein in seinen Händen, die er gegen einen ungewaschenen Schlafanzug und einen gefundenen Lammknochen getauscht hat.
Das Töpfchen war weiß glasiert und hatte einen Sprung. Unterm Rand stand in blauer Schrift: «Des Armen Mannes Freund» und darunter wiederum «Preis 1/1/½». Auf der anderen Seite: „Beach & Barnicott, alleinige Hersteller, NACHFOGER DES VERSTORBENEN Dr. Roberts, Bridport.“
Treacle Walker, S. 15 von alan garner © 2023 Hobbit Presse – Klett-Cotta Verlag
«Ziemlich alt», sagte Joe.
«Kaum zu übersehen.»
Der Mann räumte alles zurück in die Truhe und schloss den Deckel. Mitten auf dem Käppchen des Töpfchens prangte ein ovales Messingschild, darin eingraviert sah Joe seinen Namen in geschwungenen Buchstaben.
«Zum Kuckuck noch eins!»
Plötzlich sieht er verschiedene Realitäten mit seinen zwei Augen, öffnet er beide, verschwimmt alles, scheint zu kippen und sich nicht vereinen zu lassen. Figuren aus seinen Lieblingscomics werden lebendig, im Moor begegnet er einem Naturwesen, kann dies aber nur mit dem – eigentlich – schwachsichtigen Auge sehen. Joseph Coppocks Welt scheint sich zu erweitern, während sie sich gleichzeitig zusammenzieht, und das alles nur wegen des seltsamen Lumpensammlers, dem Treacle Walker.
… oder Wanderheiler?
Was nun folgt auf den nicht immer voll ausgeschöpften 160 Seiten, fühlt sich an wie ein Traum in einem Traum in einem Traum. Als würde man in einen sich ständig replizierenden Spiegel schauen. Tatsächlich spielt genau dieses Bild später sogar eine Rolle in Garners Erzählung.
Treacle Walker scheint zwischen Realität und Traum zu schweben, sich hin- und herzubewegen. Eine durchgehende Handlung ist kaum erkennbar und dennoch – kann dieser Text etwas übertragen. Beim Lesen zeigte sich eine Melodie, ein Tanz der Sätze in meinem Kopf, die wie von einem Sturm durchwirbelt, von einem Ort – einer Realität – einem Traum (wer weiß das schon) in einen anderen führten. Mit den Jugendromanen, die ich in Erinnerung hatte, hat diese Geschichte keine Gemeinsamkeiten. So dachte ich zumindest. Schaue ich aber genau hin, erkenne ich die Ähnlichkeiten. Die Nähe zur Natur und den magischen Wesen, die diese beleben. Zur Sagenwelt, die mich an die Romane von T. H. White erinnern, wie „Der Herrscher unter dem Fels“ und auch zu klassischen märchenhaften Elementen.
Was immer dieser Text Garners auch erreichen wollte, mich hat er irgendwann mitnehmen können. Nicht gleich zu Beginn, denn da wollte ich noch verstehen, suchte mit rationalen Gedanken nach einem Sinn. Dann aber ließ ich mich treiben und mitnehmen.
Wer das Gefühl kennt, in einem Traum aus einem Traum aufzuwachen, kann ein wenig erahnen, wie sich das Erleben dieser Geschichten über Joe und den Treacle Walker anfühlt. Und ich frage mich, ob sich der Autor hier womöglich selbst hat treiben lassen? Seine kindlichen Erinnerungen und Ideen für phantastische Geschichten eingedampft hat auf wenige Worte? Ob er sich treiben ließ auf der Oberfläche des Wachseins, mit Blick auf das „Früher“, das „Jetzt“ und das „Danach“? Und klingt dies alles verwirrend und zusammenhanglos? Dann passt es zur Wirkung, die dieses Buch auf mich hatte. Unerwartet, herausfordernd und nicht für jeden Lesegeschmack. Aber ganz sicher ein lohnenswertes Experiment. Ich werde es wohl ein weiteres Mal lesen.
2 Comments
Barbara
25. Oktober 2024 at 09:30Guten Morgen!
Ich habe das Buch zu Beginn des Jahres gelesen und konnte damit so rein gar nichts anfangen. Deine Schilderungen treffen mein Leseerleben aber sehr gut.
Noch habe ich es nicht aussortiert. Irgendwas hält mich noch zurück und ich überlege immer mal, es noch einmal zu lesen. Aber dann bin ich wieder abgeschreckt. Mal sehen. Es hat irgendwie eine besondere Wirkung, die ich noch nicht einzuordnen weiß.
Grüße,
Barbara
booknapping
28. Oktober 2024 at 06:49Hallo Barbara
Ja, der Treacle Walker ist eine Herausforderung und mir geht es wie dir. Die Wirkung weiß ich ebenfalls nicht ganz einzuordnen. Und genau das finde ich daran auch spannend, denn das Buch hat mich zum Nachdenken angeregt, mich verwirrt, mich hin- und hergeworfen. Ich mochte seine „Besonderheiten“.
Danke für deine Eindrücke und liebe Grüße
Sandra
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